D. H. Schortinghuis

Begegnung mit Martin Luserke

Mit dieser atmosphärisch reizvollen, biographischen Skizze des Niederländers D. H. Schortinghuis soll die Erinnerung wachgerufen werden an Martin Luserke (1880 bis 1968), einen heute fast vergessenen Schriftsteller, der Ostfriesland über Jahrzehnte verbunden war. Luserke leitete von 1925 bis 1934 auf Juist die ,,Schule am Meer" und legte 1931 in Leer an der Seefahrtsschule das Steuermannsexamen auf kleiner Fahrt ab. Seine letzte Ruhestätte fand er auf dem Friedhof in Hage bei Norden.

Ich bin auf eine recht seltsame Weise mit Martin Luserke in Berührung gekommen. Es war im November 1944, als ich im Zuchthaus von Lüttringhausen/Westfalen einsitzen mußte. Aus spärlichen Nachrichten von der Außenwelt drang wohl durch, daß die Schlacht um Arnheim geschlagen aber verloren war, und daß wenigstens noch ein Winter ins Land gehen würde.

Und der Winter kündigte sich bereits an. Wenn man auf den Hocker kletterte, um einmal durch das Zellenfenster nach draußen zu schauen, gab es nichts anderes zu sehen als graue Häuser, graue Wolken und Krähenschwärme, die durch die Luft taumelten, unheilschwer. Im Kittchen gab es eine seltsame Verknüpfung. Aus alten Autoreifen mußten nämlich Leinenfäden herausgezogen werden, die zu Tauwerk verarbeitet, das deutsche Kriegspotential stärken sollten. Aber zugleich gab es das ,,Recht auf die Bibliothek", und so wanderte jede Woche irgendein Buch in die Zelle, ohne daß man es sich aussuchen konnte.

Und in einer dieser trüben Novemberwochen, in denen wir erkannt hatten, daß wir widerspenstig sein mußten, wenn wir jemals wieder die Freiheit sehen wollten, war das Buch nur ein ganz schmales Büchlein. Es hießt ,,Windvögel in der Nacht", und geschrieben war es von einem gewissen Martin Luserke. Eine Sammlung von Erzählungen über die Watten, die dort beginnen, wo die geordnete Welt aufhört. Damals zeigte sich, welche Wirkung das kleine Büchlein ausstrahlte. Die ganze Welt der Watten drang in meine Zelle, und von diesem Moment an sollte ich immer Salzwasserluft in der Nase spüren. Ich las das Buch noch einmal, um herauszufinden, worauf diese Faszination beruhte. Aber die Stimmung blieb ganz und ungeteilt. Es waren Geschichten von den Flußmündungen und dem sich wandelnden Bereich der Priele, Geschichten, in denen ständig alte Grenzen zwischen dem Bewußten, Unbewußten und Unterbewußten, zwischen dem Leben an dieser und an jener Seite überschritten wurden. Nach einer Woche, in der die Freiheit mehr als eine Woche nähergekommen war, verschwand das Buch wieder aus der Zelle, und ich blieb zurück mit der Erinnerung an seinen Inhalt.

,,Windvögel in der Nacht", um diesen Titel kreiste meine Erinnerung. Vögel, die hoch oben in der dunklen Nacht vorüberziehen, unsichtbar. Hier und da dringt ihr Flöten zur Erde hinab, melodisch und fein wie das Frühjahr, das sie zu dem großen Zug verlockt hat. Vorboten von verborgenen Dingen, die kurz davor sind, hereinzubrechen, Laute aus einem Raum, die sich als Balsam auf all die schmerzlichen Wunden einer wimmelnden Menschenwelt legen, und so waren auch die Wattenerzählungen, aus eben diesem Raum.

Nach der Befreiung habe ich versucht, das Büchlein wieder in die Hände zu bekommen. Aber als dies über den Buchhandel nicht sogleich gelang, blieb es dabei. Damals hatte man noch nicht viel Geduld. Im Jahre 1954 war ich einmal im Urlaub einen Tag in Meldorf/Dithmarschen, wo man mir erzählte, daß Martin Luserke dort nach vielem Vagabundieren auf den Watten vor Anker gegangen sei. Er war jedoch schwer krank. Im Jahr darauf traf ich in den Niederlanden einige Deutsche, die mir erzählten, daß Luserke seiner Krankheit erlegen sei.

Einige Jahre später, als ich in reiferem Alter stärker zurückschaute, ergriff mich der Wunsch, doch mehr von Luserke zu erfahren. Ich schrieb dem Bürgermeister von Meldorf und bat ihn, mich doch mit jemandem in Verbindung zu bringen, der ihn gut gekannt hatte. Er erwiderte, er habe meinen Brief der Person, die dazu am ehesten berechtigt sei, in die Hände gegeben, nämlich Luserke selbst, der alt, aber gesund noch in Meldorf wohnte. Kurz darauf schrieb Luserke persönlich. Er pries das Leben, das ihn noch immer jeden Tag ein paar Stunden an seiner Aufgabe arbeiten ließ, die noch so groß war.

Luserke wurde 1880 in Berlin geboren, also fern vom Meer. Mit zehn Jahren liest er Schiller, bald darauf Shakespeare und zwar mit solcher Leidenschaft, daß seine Bücher unter Mutters Waschkessel verheizt werden. Um der gesellschaftlich engen häuslichen Atmosphäre zu entkommen, schreibt er Dramen. Mit fünfzehn Jahren will er zur See, geht aber schließlich in den Lehrberuf. Als Achtzehnjähriger schreibt er wieder Theaterstücke, nun über biblische Themen, und nach einigen Jahren wird er Lehrer an einem Gymnasium. 1905 hält er sich drei Monate in der Bretagne auf, wo er zum ersten Mal in Berührung kommt mit der See und ihrer Legendenwelt. Im Jahr darauf, während einer Zeit als Hauslehrer in Italien, beginnt er nachzudenken über Schulreformen im Geist von Hermann Lietz, der 1898 nach englischem Vorbild ein Landerziehungsheim gegründet hatte. Mit Wyneken beginnt er 1906 auf unkirchlich-religiöser Grundlage die ,,Freie Schulgemeinde Wickersdorf“ aufzubauen. Dort ist er bis zum Mai 1924 tätig, unterbrochen durch eine Kriegsgefangenschaft im Ersten Weltkrieg. Musik und Theater, für das Luserke die Stücke schreibt, bilden einen wichtigen Teil des Unterrichts. Nebenher entwickelt er sich zum Schriftsteller des Meeres. 1924 finden in seinem Leben große Veränderungen statt. Dann gründet er nämlich selbst eine Schule, die ,,Schule am Meer“ auf der Insel Juist. Vorläufig reicht ein Haus aus, das ,,Loog“, das westlich vom Dorf auf der schmalen Dünenkette steht, später wird es einige Erweiterungen geben. In ihrer Blütezeit zählt die Schule etwa achtzig Schüler und fünfzehn Lehrer. Im Unterricht wird der Begegnung mit der Natur ein bedeutender Platz eingeräumt. Ahnlich wie das Naturerlebnis um die Jahrhundertwende mit einer revolutionären Ablehnung bürgerlicher Normen der damaligen Jugendbewegung seinen Stempel aufprägte, so soll nun die Natur neuen Halt geben in den zwanziger Jahren, während die Inflation die gesellschaftliche Ordnung in Deutschland zerrüttete und den Abbruch der traditionellen Lebensformen vollendete. Luserke hat diese Aufgabe erlebt als eine Wikingerfahrt, ein Wagnis, bei dem alles aufgegeben wird zugunsten einer vollständigen Übergabe an das Draußen.

Auf Juist tritt Luserke auch als Erzähler auf. Abend für Abend knüpft er eine Fortsetzung an die einmal begonnene Erzählung, ohne daß die Spannung sinkt. Einer Wette wegen hat er einmal eine Erzählung ein ganzes Jahr lang fortgeführt. Die Geschichten werden erst dann dem Papier anvertraut, wenn sie mehrfach erzählt worden sind.

Das freie Schulsystem verträgt sich nicht mit dem Nationalsozialismus, welcher Stellenwert in der Hitlerjugend auch immer dem Leben in der Natur eingeräumt wird. Luserke wird die Arbeit unmöglich gemacht, so daß er 1933 aufhört. Dann beginnt der Dreiundfünfzigjährige einen neuen Lebensabschnitt, in dem der Seemann sich ungehindert ausleben kann. Durch Vermittlung niederländischer Freunde kauft er eine Zoutkamper Tjalk, die ZK 14, die auf einer Werft in Oldersum an der Ems zu dem Wohn- und Arbeitsschiff ,,Krake“ umgebaut wird. Luserke macht sich mit der Kunst der Navigation vertraut und wird von nun an Fahrensmann auf den Watten. Wenn er abends in einem der kleinen Küstenhäfen einläuft, erzählt er auf dem Kai seine Geschichten für eine gemischte und aufmerksame Zuhörerschar.

Er ist ein überaus produktiver Schriftsteller. Sieben Jahre führt er dieses Leben, Jahre, für die wir dankbar sein dürfen. 1941 wird die ,,Krake“ auf einer Hamburger Werft von einer alliierten Bombe getroffen. Einzelne Teile vom Holzschnitzwerk und einige Schiffsutensilien finden einen festen Platz in der Wohnung am Jungfernstieg in Meldorf, wo Luserke an Land geht und weiterschreibt.

Wenn man Luserkes Werk liest, sollte man bedenken, wie ein Teil davon entstanden ist, nämlich als immer wieder erzählte Geschichten. Sie kommen auch am besten zu ihrem Recht, wenn sie laut gelesen werden, mit Nachdruck, für Zuhörer, die Zeit haben. Man wird in ihnen den langen Atem der Gezeiten wiederfinden, und die Handlung endet immer ganz selbstverständlich. Umstände und Charaktere passen vorzüglich zusammen. Sie bringen gemeinsam den Gang der Handlung voran, in der ein jeder seine Rolle spielt. Wir sind vermutlich viel zu sehr gewöhnt, beide wechselseitig als Ursache und Wirkung zu sehen, wobei es dann viel Mühe kostet, das Wie und Warum zu erforschen. Wir müssen uns wohl erst ein wenig an Luserkes Geschichten gewöhnen, in denen das Geschehen erzählt wird, so wie es zu uns kommt. Aber sie spielen eben auf dem Watt, wo alles anders ist, und warum soll das andere nun nicht einmal das Wahre sein können. Man weiß doch nie genau, was es mit dem Watt auf sich hat. Natürlich weiß Luserke es besser. Nicht umsonst hat er sieben Jahre lang sich ununterbrochen wiegen lassen von Ebbe und Flut und über Bord geschaut in das strömende Wasser.

Ich wollte ihn 1963 einmal aufsuchen. Ein paar Mal mußte ich eine Gelegenheit wegen weniger guten Wetters verstreichen lassen, aber schließIich, es war schon Oktober, sollte und mußte es sein. Mit einem schweren westlichen Herbststurm im Rücken ging es durch das Ammerland, Butjadingen und das Land Wursten und anschließend mit der Fähre von Cuxhaven nach Brunsbüttel über die Elbmündung, wo die graue Nordsee tobte. Und dann nach Meldorf, während der Regen in KübeIn aus bleigrauen Schauern peitschte. Am Jungfernstieg steht ein dithmarsisches Haus. Eine Tür in der Mitte mit einer Stufe davor und ein Fenster mit einem Spitzgiebel darüber. An beiden Seiten zwei Fenster unter einem schrägen Dach. Die Wände gelb getüncht und die Fensterrahmen grün gestrichen. Ein Haus zwar, das nach nichts aussieht, aber von einer entwaffnenden gefälligen Nüchternheit, mit einem strengen Gesicht, das unablässig nach Westen blickt, seewärts.

Der dreiundachtzigjährige Luserke sitzt in einem Schaukelstuhl unter dem schwachen Licht der alten Bordlampe seiner ,,Krake". Auf seinem Kopf das untrennbare Wollkäppchen. Er schenkt ein paar Gläser Rum ein und spricht leise. In der warmen Stube herrscht eine Atmosphäre von Dankbarkeit über die Stimme, die noch spricht und für den Widerhall, den diese Stimme findet. Vor dem Fenster mit Mattglasscheiben steht ein schmaler Tisch, der Arbeitsplatz des Schriftstellers. In diesem ganz kleinen Raum zwischen Kopf und Mattglas werden die Phantasien der unendlichen Wattenwelt lebendig.

Der Besuch dauert nur eine knappe Stunde, es muß nämlich noch gearbeitet werden. Als ich am Abend noch einmal durch Meldorf gehe, prasselt der Regen nieder. Es ist so, als ob alles Wasser von der Geest zur Marsch über die schmalen abfallenden Kopfsteinpflasterstraßen strömen muß, ohne sich an eine Gosse zu kehren. Aus einer Türnische spähe ich durch das Dunkel, um zu sehen, ob der Wetterhahn auf dem Turm sich schon ein wenig nach Nordwesten gedreht hat, der Wind, den ich am nächsten Tag für die Heimfahrt gebrauche. Auf dem Spaziergang durch das ausgestorbene Städtchen komme ich an einem erleuchteten Fenster vorbei. Als ich den Giebel noch einmal genau betrachte, sehe ich, daß es das Haus von Luserke ist. Der Schriftsteller arbeitet noch, für ihn ist es noch Tag.

Wer weiß, wie die Geschichte, die die Nordsee mit diesem ersten Herbststurm über Dithmarschen gejagt hat, niedergeschrieben wird, mit welcher Sehnsucht nach der Wärme der Mittagssonne, mit welcher Weisheit aus dem Grenzbereich zwischen Leben und Tod.
 

Im Herbst 1993 erscheint im Verlag Schuster in Leer eine zweite Auswahl mit Erzählungen von Martin Lusurke unter dem Titel ,,Windvögel in der Nacht".

Der vorstehende Bericht von D. H. Schortinghuis ist erschienen  in OMA 9/93

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