Es war einmal eine Schule
am Rande der Welt . . .

Erinnerungen an den Pädagogen Martin Luserke
und dessen "Schule am Meer" auf der Insel Juist (1924-1934)


Von Hans Peter Schöniger

Verzeihen Sie bitte, kann ich mal durch Ihr Fernglas sehen?"

Der junge Mann, der zusammen mit mir an der Reling des kleinen Dampfers steht, nickt mir freundlich zu und reicht mir sein Glas. Nach fast einer Stunde Fahrt von Norddeich durchs flache Wattenmeer ist mein Ziel in Sichtweite gerückt. Durch das Fernglas sehe ich vor mir eine Reihe kleiner, gut geschützter Backsteinhäuser, die zusammen ein etwas größeres Dorf bilden - das einzige Dorf auf dieser winzigen Nordseeinsel. Die Insel Juist ist 17 Kilometer lang und an manchen Stellen nur 150 Meter breit. Autos gibt es hier nicht, man bewegt sich zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit kleinen Pferdekutschen. Das landschaftlich sehr reizvolle Eiland ist das zweitkleinste der ostfriesischen Inselgruppe. Die Besuchermassen im Sommer halten sich in erträglichen Grenzen.

Mit Hilfe des Feldstechers erkenne ich etwas abseits dem Dorf eine Häusergruppe, die sich wie eine viereckige Burg von den übrigen vereinzelt stehenden Insulanerhäuschen abhebt. ,,Das ist die Jugendherberge“, erfahre ich, und ahne, daß ich das endgültige Ziel meiner Reise vor Augen habe: die ,,Schule am Meer“!

Meine Geschichte ist kein Märchen. Es ist die wahre (das heißt: schöne und traurige) Erzählung von einer Schule, die vor langer Zeit, fernab störender Zivilisation, quasi im Verborgenen blühte, aber zu ihrer vollen Reife nie gelangte. Von einer Schule, die in diesem Jahr ihren 70. Geburtstag und gleichzeitig ihren 60. Todestag begeht.

Es ist die Geschichte der ,,Schule am Meer“ (SaM), die von dem nahezu vergessenen Reformpädagogen Martin Luserke (1880-1968) im Jahre 1924 auf der Nordseeinsel Juist gegründet wurde. Knapp zehn Jahre später, ein Jahr nach Hitlers Machtergreifung, wurde das Landerziehungsheim bereits wieder geschlossen. Eine pädagogische Vision fand auf tragische Weise ihr frühes Ende.

Was war das für eine Schule, die heute mit Attributen wie ,,musisch“, ,,ganzheitlich“ u. ä. m. beschrieben wird? Und was war das für ein Mensch, dieser Schulgründer Martin Luserke, von dem über 200 Publikationen überliefert sind und der heute in pädagogischen Kreisen weitgehend unbekannt ist?

Martin Luserke war geborener Berliner und neben seinem pädagogischen Engagement auch als Dichter, Erzähler, Jugendbuchautor, Shakespeareforscher, Seemann u. v. m. tätig. Am meisten Aufmerksamkeit und Popularität erhielt er aber nicht durch die Gründung einer Schule, sondern durch seine Arbeit im Bereich des Schultheaters. Luserke gilt als der Nestor des ,,Laienspiels“. Als einer der Väter dieser Bewegung, die in den 20er Jahren ihre Blüte erlebte, inszenierte er mit Schülern Skakespearekomödien in äußerst unkonventioneller Aufführungsart: In seinen Bewegungsspielen gab es keinen Vorhang, jeder spielte eigentlich nur sich selber, und die Zuschauer wurden mit in das Geschehen im Saal einbezogen. (Auf Juist steht heute noch die große Theaterhalle, die von Luserke eigens für die Bewegungsspiele der Schüler der SaM errichtet wurde.)

Der junge Luserke wurde unter den Fittichen der Herrnhuter Brüder in einem Lausitzer Internat erzogen und zum Lehrer ausgebildet. Nach einigen Jahren der Tätigkeit am Gymnasium dort verließ Luserke diese pietistische Welt und wandte sich (nach einem abgebrochenen Studium) der gerade in Deutschland aufkommenden reformpädagogischen Bewegung zu. Er wurde Lehrer in dem von Hermann Lietz geleiteten Landerziehungsheim Haubinda. Fast 14 Jahre lang wirkte er dann als Leiter der damals wohl bekanntesten Reformschule, der Freien Schulgemeinde Wickersdorf.

1924 verließ Luserke (nach jahrelangen quälenden Auseinandersetzungen mit Gustav Wyneken, dem ,,geistigen“ Gründer der Schule) die Freie Schulgemeinde Wickersdorf und gründete an der Nordsee seine ,,Schule am Meer“.

Die Gründung einer eigenen Internatsschule war der Traum und der kurze Höhepunkt in Luserkes pädagogischem Schaffen. In ,,seiner Schule“ wollte er junge Menschen nach ganzheitlichen Idealen und Bildungsvorstellungen erziehen. Konsequent wie wohl keiner in seiner Zeit versuchte er, in der ,,Schule am Meer“ eine ständige Integration von intellektueller und musischer Bildung nach humanistischem Vorbild zu verwirklichen. Er nannte dies die ,,Synthese von Geist- und Lebensbildung". Die musischen Bildungsbemühungen (sie umfaßten die Fächer Musik, Kunst, Laienspiel, Sport) nahmen an der Schule am Meer ebensoviel Raum ein wie die herkömmlichen traditionellen Schulfächer.

Der Versuch, 1931 die Schule samt ganzheitlichem Lehrplan der preußischen Schulverwaltung als Modellschule anzubieten, scheiterte. Wirtschaftliche und personelle Spannungen führten 1934 dann zum vorzeitigen Ende der SaM. Luserke konnte mit seiner Schule keine eindeutige Haltung zu dem gerade an die Macht gekommenen nationalsozialistischen Regime finden. Die Schule wurde aufgelöst. Luserke kaufte sich ein Holzboot und verbrachte fünf Jahre Romane dichtend auf See. Zu Kriegsbeginn 1939 ließ er sich im schleswig-holsteinischen Meldorf nieder. Dort lebte er von der Schriftstellerei und der Fortführung seiner Laienspielarbeit.

In Meldorf verstarb er 1968 im Alter von 88 Jahren.

Luserke ist nie wieder auf die Insel Juist zurückgekehrt. Die Schule am Meer, die letztlich vor allem durch die Persönlichkeit, dem pädagogischen ,,Urgestein“ Martin Luserke, geprägt war, ist nie wieder zum Leben erweckt worden. Man kann sie heute nur noch in der Phantasie besuchen. Dazu möchte ich Sie, liebe Leser, nun einladen.

Gegen 6 Uhr morgens (aufsteigende Flut): ... In den ersten Sonnenstrahlen sieht man eine große, kräftige Gestalt mit einem dunklen Leinenumhang und einem schwarzen Seemannskäppi auf dem Kopf durchs Schulgelände stapfen. ,,Rise, Rise“ dröhnt es laut aus einem alten Megaphon. Mit diesem Weckruf (der aus der Seefahrt stammt) wird allmorgentlich vom Schulleiter persönlich die ganze Schule geweckt. Dem Weckruf folgen verschiedene Informationen, z. B. wie das Wetter ist, ob der Tag schön wird oder ob Sturm zu erwarten ist.

Es dauert nicht lange, schon kommen etwa 70 Jungen und Mädchen aus ihren Häusern gekrochen und finden sich bald gemeinsam in den windgeschützten Dünen ein, wo die Frühgymnastik stattfindet. Auch die Lehrer sind dabei und strecken und dehnen sich in der Morgensonne. Ein kurzer gemeinsamer Lauf zum nur wenige Meter entfernten Strand schließt sich an, und dann geht es zum ,,Tauchbad“ ins Meer! (Auch dies ist für alle verbindlich, zumindest während der Sommermonate.)

Frisch geduscht und fertig angezogen versammelt sich die ganze Schule dann im Speisesaal, wo man sich um das in der Mitte stehende Klavier herumgruppiert. Der Musiklehrer der Schule, Eduard Zuckmayer (Bruder des bekannten Dramatikers), setzt sich an den Flügel und spielt in gemessenem Tempo Praeludium und Fuge aus dem ,,Wohltempenerten Klavier“ von Johann Sebastian Bach. Dann erst geht es zum Frühstück.

Der Unterricht findet in kleinen Klassen statt, mit maximal 10 Schülern. Schüler und Lehrer sitzen gemeinsam an einem runden Tisch. ,,Frontalunterricht“ gibt es nicht. Der Unterricht orientiert sich nicht an irgendwelchen Rahmenplänen, sondern am Leben. Die Schüler gestalten die Unterrichtsstunde wesentlich mit; für die naturwissenschaftlichen Fächer z. B. bietet die reiche, vielfältige Natur der Insel mannigfaltigen ,,Unterrichtsstoff“. Der Unterricht für die ,,Kleinen“ aus der Sexta und Quinta findet im Arbeitszimmer des Schulleiters statt. Er besteht hauptsächlich darin, daß Martin Luserke die Jungen und Mädchen mit spannenden Märchen oder Seefahrergeschichten bis großen Pause in Atem hält. Die Pause wird zum Bettenmachen und Zimmeraufräumen genutzt und ist ansonsten der ,,Tobsucht“ vorbehalten (einer ,,Tabu-Zeit“, in der man am Strand ohne Reglementierungen herumtoben darf). Nach zwei weiteren Unterrichtsstunden gibt es das sogenannte Gabelfrühstück, ein Mittagessen, bestehend aus leichter Kost, an welches sich dann eine allgemeine ,,Stille Zeit“ anschließt. Der Nachmittag ist der Luserkeschen ,,Lebensbildung“ vorbehalten, d. h.:

- Praktisches Arbeiten in den 11 (!) Schulgärten oder den Werkstätten (Tischlerei, Schlosserei); Instandsetzungsarbeiten an den Schulgebäuden (die Schule wurde ja gemeinsam ,,gebaut“); Pflegearbeiten im großen, 30 Becken umfassenden Seewasseraquarium u. ä. m.

Beim Abendessen erscheinen die meisten Schüler und Schülerinnen in der Schultracht: die Jungen in grauen Knickerbockern und dunklen Blazern, die Mädchen in roten Kleidern mit weißen Blusen, und alle mit der typischen schwarzen Baskenmütze, dem Erkennungszeichen der Schulgemeinschaft. Immer acht bis zehn Schüler sitzen an einem Tisch, in ihrer ,,Kameradschaft“, die von einem Lehrer geleitet wird und fast mit einer Familie vergleichbar ist.

Am Abend wird die ,,Schulgemeinde“ einberufen. Ein aktuelles Problem soll von der gesamten Schule gemeinsam erörtert und diskutiert werden. Mitverantwortung wird an der SaM großgeschrieben. Jeder Schüler ist irgendwie in die Verantwortung der gesamten Schule miteingebunden, ob als ,,Bibliothekswart“, als Mitglied der ,,Elektrodiktatoren“ (die den Stromverbrauch der Schule kontrollieren) oder im ,,Schülerausschuß“, der Interessenvertretung der Schüler. Möglichkeiten gibt es viele. Gemeinsames Singen beendet den Tag - eine große Tradition der ,,Schule am Meer“. Und während alle Schüler nacheinander mehr oder weniger freiwillig zu Bett gehen, verschwindet am Meereshorizont die Abendsonne hinter den Gärten und niedrigen Häusern der Schule am Meer ... So etwa sah ein typischer Tagesablauf an der Schule am Meer aus.

Heute findet man nur noch wenige Spuren dieser außergewöhnlichen Schule (auf der ,,Berühmtheiten“ wie Beate Uhse oder Schauspielerin Maria Becker einen Teil ihrer Schulzeit verbrachten). Die noch z. T. stehenden Gebäude gehören heute dem Deutschen Jugendherbergswerk. Im Küstenmuseum auf Juist läuft bis Jahresende (1995, d.Red) noch eine sehenswerte Ausstellung über Martin Luserke und die ,,Schule am Meer“. Ansonsten war es in Pädagogenkreisen und der Öffentlichkeit in der Vergangenheit sehr still um die Person Martin Luserke.

Das mag an dem Umstand gelegen haben, daß viele Martin Luserke in seiner Begeisterung für die nordisch-germanische Mythenwelt (fast alle seine Erzählungen handeln davon) als geistigen Wegbereiter nationalsozialistischen Gedankenguts bezeichnet haben. Über einen solchen Vorwurf muß man (auch im Zuge einer kritischen Aufarbeitung des Themas Reformpädagogik und Faschismus) streiten dürfen. In letzter Zeit sind mehr wissenschaftliche Arbeiten über Martin Luserke und seine Schule am Meer entstanden, die sich mit der Problematik auseinandersetzen. [Vgl. u. a. Ulrich Schwerdt: Martin Luserke (1880-1968). Reformpädagogik im Spannungsfeld von pädagogischer Innovation und kulturkritische Ideologie Verlag Peter Lang 1993]

Dem Besucher von Juist und der musischen Schule an Meer stellt sich zuletzt dennoch die Frage, warum eine so pädagogisch außergewöhnliche Einrichtung (die Inselbewohner damals bezeichneten die Schule mit respektvolle Distanz als ,,revolutionär-fortschrittlich“) nicht den Nationalsozialismus überleben konnte und noch heute in der pädagogischen Landschaft der Bundesrepublik wie andere berühmte Landerziehungsheime (Salem, Odenwaldschule etc.) weiter oder wieder existiert?

Der vorstehende Bericht von Hans Peter Schöniger wurde in der 1. Februarausgabe 1995
der Deutschen Lehrerzeitung (DLZ 5/95) veröffentlicht.

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