Vorwort
Zum hundertsten Geburtstag Martin Luserkes am 03. Mai 1980 hielt Professor Kurt Sydow seinen vielbeachteten Vortrag "Die Lebensfahrt des Martin Luserke". Ohne die sonst bei ähnlichen Gelegenheiten übliche Aneinanderreihung von Lebensdaten und Werken zeichnete er, der drei Jahre lang - 1929 bis 1932 - als Musiklehrer an der Schule am Meer auf Juist tätig war, die wesentlichen Leitkurse der Lebensfahrt nach. Dabei gelang ihm ein lebendiges Bild seines ehemaligen Weggefährten, unter anderem auch durch Schilderung der wenig bekannten Italienreise des jungen Studenten Martin Luserke oder von Erlebnissen aus seinen späteren Lebensjahren.

Als an 06. Juli 1986 die Luserke-Ausstellung auf Juist eröffnet wurde, äußerten viele Menschen spontan den Wunsch nach einer Luserke-Kurzbiographie. Hierfür bot sich nun Sydow's einfühlsamer Text in geradezu idealer Weise an.

Ich bin Frau Anni Sydow zu großem Dank verpflichtet, daß sie den Nachdruck des Vortrages ihres 1981 verstorbenen Mannes gestattete.

Man möge mir nachsehen, daß hier kein drucktechnisches Prunkwerk (*) vorgelegt wird. Das - glaube ich - wäre auch wohl kaum im Sinne des Käpt'n gewesen. Aber dieser Form der "Spurensicherung" hätte er bestimmt seinen Segen erteilt.

Juist, im Juli 1986                                       Hans Kolde

(*) Die Original-Broschüre, aus der dieser Text gescannt wurde, ist mit Schreibmaschine geschrieben und anschließend kopiert worden - mit allen dazu gehörenden und zum Teil handschriftlichen Korrekturen. (hp)




Kurt Sydow

Die Lebensfahrt des Martin Luserke


Während und nach den Studienjahren in Jena 1904/05 liegen die anderen beiden Reisen: Eine in die Bretagne und eine nach Italien. Ich ziehe die Italienreise in meiner Darstellung vor. Sie gibt Zeugnis von der Aufgeschlossenheit des 24-jährigen, von seinen Gedanken, inneren Auseinandersetzungen und seinen besonderen Erlebnissen. In Briefen an einen Freund, den Organisten Seiler in Neuwied, bringt er die verschiedenen Eindrücke zu Papier. So ruft er aus: "Oh, dies Gefühl der Freiheit. Kein Beruf, keine Verpflichtung, das Leben so schön, daß man keine Zukunft braucht, um eine verfehlte Vergangenheit auszugleichen" (Das meint ja wohl die Befreiung aus den Zwängen, wie man heute zu sagen pflegt). - Und unbekümmert, aber weniger auf sich selbst bezogen als auf einen Gesprächspartner auf der Reise, heißt es: "Die Sitte, nichts aufzuschreiben oder Kasse zu führen, sondern einfach draufloszureisen, bis das Geld offenbar alle wird, erspart einem viel Ärger und ist das einzig Senkrechte". Er setzt betrachtend dazu "erste Schwachheit".

Dem heutigen Tourismus kann dieser Satz aus dem Jahre 1905 immer noch ins Buch geschrieben werden. "Der Begriff der "Sehenswürdigkeit" entwickelt sich zu dem Wahnsinn, den er heute in sich schließt .... Das erste Gebot lautet: Wenn ich wohin gehe, will ich doch wenigstens  a l l e s  sehen! Oder doch die Hauptsachen,
- Warum denn, du Kamel! Warum denn! Gib mal hierauf 'ne vernünftige Antwort. Eine, die auch ,,Was ist das" und ,,Wie geschieht das" verträgt". - Er schreibt an anderer Stelle, wie er es wirklich meint: "Das Wandern der Zukunft besteht nicht mehr im Sehen von Neuem, sondern im bewußten Erleben neuen Milieus. Folge und Wert ist ein vertieftes Weltbewußtsein".

In Shakespeares "Wintermärchen" sagt Paulina, die Betreuerin der totgesagten Hermione, als der alte Leontes das Standbild seiner Gattin sieht und der in helles Entzücken ausbricht:: "Euer Aug' hat zu viel Jugend!" Luserke hat auf dieser Reise noch das Auge der Jugend. Immer wieder schreibt er von menschlichen Begegnungen, die ihn begeistern und entzücken.

Ist es nicht auch schön, von dem jungen gegenüber dem späteren hintersinnigem Luserke Verse dieser Art zu lesen:

"Mit deiner Zöpfe dunkler Pracht,
Mit deiner Kleider bunter Tracht.
Im Auge Glut von Sonnengold,
Capreser Maid, wie bist du hold!

Mit Augen wie das Weltenmeer,
So tief und seltsam sehnsuchtsschwer,
Und schlank, wie rings die Felsenhöh'n,
Capreser Knab', wie bist du schön!"

Die Reise führt über Bozen - Riva am Gardasee - Venedig (das schöne, träge, lasterhafte Venedig, so schreibt er) - Bologna - Florenz - Rom - Neapel - Capri - Sorent - Genua nach Deutschland zum Neuanfang in Haubinda.

In den Briefen beschäftigt er sich mit Fragen der Kunst und den überladenen Aufstellungen der Plastiken in den Museen. Er reflektiert Fragen des Christentums und des Geistes. Einmal klingt es wie ein Stoßseufzer: "Es ist doch alles sehr gut gekommen, und ich möchte in Kinderart an Gott glauben, um ihm danken zu können". Dann wieder: "Aber ich glaube an ein Fortleben des geistigen Gewinns, des "Erarbeitens" im großen Strom der Menschheit. An einen geistigen Strom über ihm und was uns so "kommt", das ist das Rauschen dieses Stroms, das sich in uns bricht und ändert, und wir "schaffen" nicht, aber wir schaffen weiter".

Aus den Briefen wird auch deutlich, wie stark er mit der Musik gelebt. Er erinnert sich an Niesky, an sein Komponieren, an sein Dirigieren und an das Aufgehen in Musik. Man sagt übrigens, er konnte auch Fugen schreiben.

Ein unerwartetes Ereignis tritt während seines Aufenthaltes auf Capri ein, der Ausbruch des Vesuvs. Ich zitiere:

"Es ist lächerlich, wir sind hier auf Capri gefangen. Um 1/2 7 sollte das Schiff gehen. Um 7 heut' wach ich auf und sehe nach der Uhr. Schon 7, verdammt, verschlafen. Warum hat mich der Kerl nicht geweckt. Ich komme zur Besinnung und reiße die Augen auf:
Ja, zum Donnerwetter, was ist denn das? Es ist ja noch Nacht! Ich stürze an den Balkon: Ja, eine erdfarbene Dämmerung verhüllt alles; über uns wird der Himmel blau, aber unten - alles dunkel, der Boden zolltief mit feiner samtweicher Asche bedeckt. Ungefähr wie Schokoladenpulver; schon tappt auch der grauköpfige Alte die Stiege herauf - es klingt, wie wenn er durch Schnee geht: Signore, non parta il vapore, tutto oscuro, also, kein Schiff fährt, wir sind gefangen.
Das erscheint ganz romantisch - aber nur fünf Minuten lang. Die verfluchte staubfeine Asche dringt überall hin: sie kitzelt unterm Hemd, beschmutzt meine Papiere, knirscht zwischen den Zähnen - man s i e h t nichts vom Aschenregen, so fein ist sie, aber man fühlt sie. Und dieser elende Gestank! Brenzlig mit etwas Schwefel. So haben sie's in Neapel schon eine Woche lang. Wenn nur bald ein Schiff ginge. Ich weiß jetzt, was ein großer Vulkanausbruch ist. Nase voll!"

Es ließe sich noch vieles aus diesen Briefen, die nur einem kleinen Kreis zugänglich geworden sind, anführen. Und es fällt mir schwer, hier abzubrechen. Doch das noch: Der Lehrer und Erzieher ist in die Freiheit einer Reise aufgebrochen. Zwei Stellen markieren während der Zeit seine Auseinandersetzung mit dem Lehrerberuf.

Heute habe ich den ganzen Vormittag in der Schule verhospitiert (das war in Florenz) und wieder empfunden, daß ich kein Lehrer bin. Denn das ganze, so unendlich wuchtige (das ist ernst gemeint) Äußerliche, die ganzen Handgriffe und Techniken, das interessiert mich gar nicht. Und so wird's in Haubinda wohl ein schmähliches Fiasko geben. - In einigen späteren Briefen aber schreibt er - und wie es scheint, nach langen Erwägungen - von seinem Entschluß: Es gilt, Leben und Ehre zu wagen, um der Menschheit ein Stück voraus zu eilen und kühne Träume zu verwirklichen, um ein moderner Lehrer zu sein.
Ich w i l l ' s !

Die Reise in die Bretagne findet ihren Niederschlag im "Seemannsgarn vom mündlichen Erzählen, Reise zur Sage". Dieses 1940 erschienene Buch trägt autobiographische Züge und beschreibt die Umkehr von der sogenannten Literatur zum Sagenerzähler. Wie es dazu kam, das kann nur durch ihn selbst sprechen. Er befindet sich auf der Insel Molène.

Etwa 60 Leute - alle außer mir in Holzschuhen - hielten sich bei den Händen und stampften in einem weiten Kreis um den alten Barden im der Mitte. Der Landstreicher aber geigte und sang abwechselnd. Wenn er eine Zeile herunterleierte, stand alles still. Dann geigte er und der Kreis schwang sich drei Schritte nach rechts, beim dritten gewaltig auftrampelnd. Dann kam wieder eine Zeile, und es ging drei Schritte nach links.

Und dann folgten zwei Zeilen in verschiedener Tonhöhe, wie Frage und Antwort, und ein langer Kehrreim der winselnden Geige, zu dem der Kreis rundherum tobte. Dann kam wieder eine neue Strophe, und so ging es in eintöniger Raserei durch eine scheinbar endlose Ballade hin, von der ich kein Wort verstand. Aber immer höher gewachsen mit der Zeit schien der alte Landstreicher in der Mitte zu ragen, und sein Geigengefidel stand gespenstisch fordernd im bleichen Sonnenschein. Die wilde, schwermütige Lust wuchs und wuchs. Dieser letzte Barde verstand sich offenbar auf die Künste . . .

Als nur noch das gelbe Abendlicht im Westen stand, saßen wir auf dem zerstampften, warmen Rasen im Kreise, und jetzt endlich erlebte ich, was noch gefehlt hatte: Es wurden Geschichten erzählt. Der große Paor hatte plötzlich den Barden in den Kreis gerissen und neben sich auf den Boden gestaucht: "Du sollst erzählen, Du Stück von einer alten Kuh". Das wilde Herauszwingen der Geschichte, als ginge es um die Enthüllung gehüteter Schätze, schien zum richtigen Verlauf notwendig. Der Barde schielte zu mir herüber, ich gab meine Flasche aus, und nun ging das Erzählen an. Die Verzauberung war jetzt wirklich auf ihrem Höhepunkt, und die Zunahme der Dunkelheit wirkte nicht mehr, als ob sich etwas änderte.

Aber dies Erzählen war anders, als der Dichterabend eines Fachmannes, wenn der Alte auch des Wortes geheimnisvoll mächtig zu sein schien. Man hatte ihn hier gewiß nicht dafür bezahlt, um dann stumm dabeisitzen zu müssen. Wenn ich auch die Worte kaum verstand, immer wieder schien er seine Hörer zu Bestätigung aufzurufen, oder es wurde ihm mit einer wilden Berichtigung aus dem Kreis dazwischen gefahren. Manchmal erzählt überhaupt ein anderer. Schon aus dem Tonfall und den sparsamen Gebärden glaube ich, den Inhalt erraten zu können . . . .

Nun hegte ich zwar nicht nur den heimlichen Ehrgeiz, ein Dichter zu werden, sondern ich war auch von Kind auf ein Geschichtenerzähler gewesen. "Und wir haben hier doch alle genauso wie Du einmal in der Schule Französisch gelernt", raunte Mutter Hué mir zu, als wenn sie meine Sorgen spürte. Aber wie spielerisch und unmöglich kamen alle meine berühmten Geschichten mir hier vor, inmitten dieser gleichsam mithorchenden Natur. Was sollte ich Menschen erzählen, denen Geschichten ganz etwas anderes waren, als nur ein Zeitvertreib neben vielen sonst . . . Ein Höhepunkt!

Der letzte Barde hatte kein Verständnis dafür, daß es etwa für einen hier auf Molène Umstände geben könnte. Sein Gesicht war plötzlich mir zugekehrt, und ich hörte mich auf Französisch aufgefordert, jetzt meine Geschichte vorzubringen. Ja, und so zitierte ich mich also . . . . . . . . .

"Sehen und Sagen" oder "Man braucht es ja nur so zu sagen, die Namen alle und wie es gewesen", das gehört künftig zum Handwerk des Sagen- und Geschichtenerzählers Martin Luserke. Er sucht, auf den Grund zu gehen, Wesenhaftes zu ergründen, mythische Vergangenheit in lebendiges Wort umzuwandeln, das "Abenteuer zwischen Geburt und Tod" im Kampf mit dem unsichtbaren Mächten zu gestalten. Auch das Schicksal der geschlagenen Kreatur, bis für sie die große Stunde kommt, die zur einmaligen bewegenden Tat fährt, macht Inhalt und Form der Geschichten aus. Im "Sehen und Sagen" begreift sich das hohe Maß von Naturbetrachtungen wie der Küstemlandschaft, des Meeres, der Wolken und Winde. Auf Molène zerriß Luserke alle bis dahin verfaßten Dichtungen und warf die Fetzen ins weite Meer. Zu einer echten Auslösung kommt diese Begebenheit im französischen Kriegsgefangenenlager im Ersten Weltkrieg. Luserke ist in Gefangenschaft. Es heißt:

Das Schlimmste aber war die Finsternis, wenn wir mit Einbruch der Dämmerung in der großen Halle eingesperrt wurden. Außen herum heulten stündlich die Wachtrufe der französischen Posten, und jeder Regenschauer lag als unirdisches Prasseln auf dem Eisendach. Im Innern der Halle gab es nicht die geringste Beleuchtung.
Zufällig hörte ich, es habe sich in dieser Verlassenheit eine "Geheimratsecke" gebildet, und sie reden dort immer. Ab nächsten Abend tastete ich mich durch die Prozession und fand den Weg zu jener Ecke. Es gab dort eine lange Bank - sie war in den ersten Wochen das einzige Hausgerät in unserer Halle - und dort wurde nun wirklich geredet. Es war vor dem Weltkrieg allgemein eine debattierfreudige Zeit in Deutschland gewesen, und allerlei Leute aus geistigen Berufen hatten sich nun in dem Bemühen zusammengefunden, die Zeit, deren Anhalten uns ersticken wollte, wenigstens einigermaßen in Gang zu bringen . . .

Eines Nachts hatte ich mich wieder im dunklen nach der Strohhütte getastet, wo die Gruppe lag, die ich nach der Lagerordnung zu betreuen hatte. Mein Nachbar schlief noch nicht, und als er sich zurechtrückte, um mir Platz zu machen, hörte ich ihn murmeln: "Ach, unser Korporal hat sich auch in der Geheimratsecke die Zeit vertrieben. Ja, wir verstehen das Reden eben nicht".

Und so schlug es für mich sofort als ein aufschreckendes Echo aus der Finsternis zurück: Wenn Du nicht hier und jetzt eine Geschichte erzählen und Deinen Kameraden mit der geheimnisvollen Macht der Stimme die Zeit im dunklen erträglich machen könntest, dann wäre Deine ganze Kunst und Erfahrung und Deine ganze Bildung nur eine selbstgenügsame Spielerei gewesen. Sage ist Not auf Erden, hallte es hier am Rand der Welt fremdartig und herrisch . . . .

Der Eingebung folgend habe ich mich in jenem Augenblick mit einem Ruck ermannt. Wenn Ihr auch noch nicht schlafen könnt, will ich Euch mal eine Geschichte erzählen", zwang ich mich, Sage anzubieten . . . .

Sechzig Titel der Prosadichtung führt Martin Kießig bereits in seiner Dissertation "Martin Luserke - Gestalt und Werk" von 1936 auf. Die Gestalten "Tanil und Tak" beleben noch heute die Phantasie der älteren Generation, die in der Jugend von den indianischen Legenden ergriffen wurden. "Sar Ubos Weltfahrt", "Hasko" , "Obadjah und die ZK 14" gehörten zu weit verbreiteten Geschichten. "Hasko" erreichte eine Auflagenhöhe von über 100.000. In den fünfziger Jahren kamen die erstgenannten Geschichten - die Zeltgeschichten - neu heraus, ebenso wie "Obadjah". Augenblicklich ist greifbar der Band "Am Rande der bewohnbaren Welt", in dem Herbert Giffei eine Auswahl zusammengestellt hat, darunter "Der kleine Schüss" und "Die drei Erscheinungen der heiligen Anna von Auray".

Hans-Windekilde Jannasch widmet in seinem Buch "Spätlese - Begegnungen mit Zeitgenossen" ein Kapitel Martin Luserke und Rudolf Aeschlimann. Jannasch, der 97-jährig in geistiger Beweglichkeit in Göttingen lebt, ist früher Weggenosse Luserkes gewesen. Er kennt ihn aus den Instituten der Herrenhuter. Ich zitiere:

Als älteren Schülern waren uns zwei Wege zum Spaziergang ohne Aufsicht freigegeben, der eine begrenzt, der andere in unbegrenzte Weite führend. An diesem stehen wir am ersten Nachmittag der Pfingstferien. Es ist die Chaussee, die irgendwann einmal Dresden trifft. Ein phantastischer Gedanke! Luserke erklärt sich auf der Stelle bereit, dem Lockruf der Ferne zu folgen. Wir legen unser mageres Taschengeld zusammen für das Telegramm, das seine Ankunft in Dresden melden soll, und für die Rückfahrt 4. Klasse. 16 Stunden läuft er, bricht auf der Augustusbrücke übermüdet, mit durchgelaufenen Füßen, zusammen, telegraphiert triumphierend und ist am nächsten Tag wieder da. Sind es nicht die Keime späterer Lebensleistung?

Derselbe Jannasch folgt den Spuren Luserkes, wird auch Lehrer in Wickersdorf. Von dieser Schule sagt er:

Ihre Blütezeit in den Jahren 1909-19 - unterbrochen durch 2 1/2 Jahre Krieg und Kriegsgefangenschaft - ist wesentlich durch die Persönlichkeit Luserkes bestimmt.
Er trat persönlich in solchem Maße zurück, daß die Besucher der Schule häufig nicht wußten, wer eigentlich der Leiter sei. Er verstand es, unter Hintansetzung des eigenen Geltungsbedürfnisses Lehrkörper und Schulgemeinde bis an die Grenze des Tragbaren mit Verantwortungen zu betrauen, so daß die Idee dieses Spezialgebildes zur schönsten Auswirkung gelangte, ohne durch einen vergewaltigenden Willen beeinträchtigt oder gar verfälscht zu werden. Wer diese Jahre in Wickersdorf miterlebte, erinnert sich, wie Luserke bei aller Weltentäußerung Mittelpunkt der Schule war, welche Fülle von schöpferischen Anregungen von ihm ausging und wie er Atmosphäre zu bilden verstand. Die vielseitige musische Begabung Luserkes befruchtete das Leben der Schule. Wie hütete sich jeder, in der meist von ihm selbst verfaßten und gezeichnetem Schulzeitung "Ratatösk" angeprangert zu werden. Mag es zum Charisma Luserkes gehören, als Schulleiter Qualitäten dieser Art zu entfalten. Darüber hinaus verneine ich, etwas von dem Erbe Herrenhuts zu spüren, aus der Welt der Agape, wenn auch völlig säkularisiert: die selbstlos der Sache dienende Liebe, die überwindung ichhafter Haltung im Dienst am Ganzen. Denn Luserke war schon damals aus dem Christentum ausgewandert und auf dem Rückwege zu jener magisch-nordischen Weltansicht, die sich später in seinem Schrifttum ausspricht und die ihn bewog, seine "Schule am 'Meer'" auf der Insel Juist zu gründen.

Wir sind im Jahre 1913. Martin Kießig führt in seiner schon genannten Dissertation an:

Mitte Oktober 1913 fand auf dem Meißner bei Kassel der Erste Freideutsche Jugendtag statt, jenes berühmt gewordene festliche Treffen der Vorkriegsjugendbewegung, auf dem sich diese zu einer neuen jugendlichen Haltung und Verantwortlichkeit bekannte. Die Freie Schulgemeinschaft Wickersdorf gehörte zu der Reihe der einladenden Verbände und war auch auf der Tagung durch den größten Teil ihrer Lehrer und Schüler vertreten. Nachdem Wyneken bei dem Aussprache-Abend am 11. Oktober auf dem Hanstein zweimal das Wort ergriffen hatte, Luserke aber wegen Zeitmangel nicht mehr dazu kam, leitete er den ersten Meißner-Tag (12. Oktober) mit einer kurzen Rede ein, in der er auf Wynekens Rede vom Vorabend zurückgriff. Wyneken hatte mit Schärfe und Entschiedenheit die Eigengesetzlichkeit und Selbstherrlichkeit der Jugend betont. Demgegenüber bezeichnete Luserke die Jugend als eine Vorbereitungszeit, eine Zeit vom Erwachsenenleben (als der Zeit der Reife und des Wirkens) wesentlich abgekehrter Sammlung und der Reifung, in der man sich die großen grundlegenden, richtunggebenden inneren Werte erwerben müsse, die ein Leben lang vorhalten sollten (laut "Frankfurter Zeitung") .

Deshalb seien Kulturfragen wie die bei der Hansteiner Aussprache angeschnittenen auf einem Jugendtag zweitrangig. Luserke sprach gleichnishaft von Christus, der vor seiner öffentlichen Wirksamkeit auf 30 Tage in die Wüste ging, um sich zu sammeln. - Die "Frankfurter Zeitung", die über die Tagung auf dem Hohen Meißner ausführlich berichtet hat, nannte Luserkes Ansprache "das Beste und Feinste, was auf der ganzen Tagung gesagt worden ist".

Im Sommer des nächsten Jahres 1914 machte Luserke, bestimmt durch die Anteilnahme an technischen und wirtschaftlichen, vor allem aber an seelenkundlichen Fragen, einen bemerkenswerten Versuch. Er begab sich auf eine Art romantische Forschungsreise und wurde Fabrikarbeiter in Chemnitz/S., weil ihn - wie er sagte - "die Gattung Mensch interessiere". Er reiste dabei mit falschen Papieren, und niemand in Chemnitz ahnte, wer er war. Während dieser Zeit hat Luserke nur von seinem Arbeitslohn gelebt und in 6 Wochen sogar noch 10 Mark gespart.

In die Wickersdorfer Zeit fällt eine besondere Entwicklung des Laienspiels. Die Bezeichnung Laienspiel ist - wenn auch umstritten - auf Luserke zurückzuführen. Heute nennt man Laienspiel "Darstellendes Spiel" oder "Amateurtheater". Luserke entwickelte aus Erkenntnissen der Gestalt Shakespeare'scher Schauspiele seine Bewegungsspiellehre und das später so genannte Bauhüttenprinzip, das Selberschreiben von Stücken in dramatischer Werkstatt mit Meister, Lehrlingen und Gesellen. Zuletzt nannte er das Verfahren in Verbindung mit seinen veröffentlichten Spielen "Meldorfer Spielweise". In der Erstveröffentlichung zu dem Thema "Shakespeare - Aufführungen als Bewegungsspiele" (1921) spürt man die große Lust der Entdeckerfreude an einem dramatischen Gestaltungsprinzip. Luserke nutzt dieses Prinzip zu einer dem Laien möglichen Spiellehre, wie sie sonst an keiner anderen Stelle geleistet worden ist. Man kann gegen seine dramaturgischen Einsichten in der Unterscheidung von Drama und Schauspiel polemisieren , sein Weg bleibt konsequent, seine Aufführungen zeichneten sich über fünf Jahrzehnte durch hinreißende Impulsivität aus. Die Vermächtnisschrift "Pan, Appollon Prospero" (1954) konzentriert das Prinzip der Dramaturgie in folgender Weise:

Der Kantus firmus: Rede- und Gedankengang, die Oberstimme selbständige Musik. Der Basso continuo: Das Bewegungsspiel, die Füllstimme: Das Publikum heute und hier.

Er beendet seine Morphologie mit einem Lob des Shakespeare'schen Lachens. In diese Polyphonie des Gestaltungsprinzips gehört natürlich die eigentliche Kontrapunktik des Spielablaufs, die sich in drei Personengruppen als eine Tripel-Fuge ausweist .

Luserkes Schau ist weitgreifend, im Längsschnitt von der Attischen Tragödie bis zur Renaissance, im Querschnitt die drei möglichen Formen des Theaters seit der Renaissance: Das Verkündigungstheater nach Corneilles Art, das Calderon'sche Suggestivspiel und das Shakespeare'sche Allround-Theater. - In dieser seiner Vermächtnisschrift strömen die Gedanken durch die Worte. Die Sprache ist bilderreich, saftig und volkstümlich. Zuweilen ist sie so dicht, daß der allzu Vernünftige Zeit braucht, bis er vom Sinn erfaßt wird.

Der Anspruch der Schrift kann in seiner Formulierung nicht überhört werden: "Sollte es unserer gegenwärtigen Epoche nicht eher geziemen, die Wahrheit der lebendigen Gestalt zu suchen , als nur mit den einstigen Verkleidungen nach Möglichkeit im Geschäft zu bleiben?"

Herbert Giffei faßt in seiner vor der LAG Nordrhein-Westfalen unlängst herausgegebenen Schrift "Martin Luserke und das Theater" die Dramaturgie und ihre anthropologischen Hintergründe, das "agitur ergo sum", neu zusammen.

Mit "Blut und Liebe" hatte es 1906 begonnen. Dieses Ritter-Schauer-Drama, damals als Groteske auf das Dilettantentheater gemünzt, wird bis zum heutigen Tage aufgeführt. Es erschien erstmalig im Druck 1912 in einer Sammlung "Fünf Komödien und Fastnachtsspiele aus der Freien Schulgemeinde Wickersdorf". Der deutsche Laienspiel-Vertrag Weinheim 
(gemeint ist wohl der deutsche Laienspiel-Verlag, d.Red.) berichtet 1980, daß mit der Übernahme durch den Chr.-Kaiser-Verlag München 1925 und in der Nachfolge durch den Arwed-Strauch-Verlag Leipzig bis zu der gegenwärtigen Verbreitung durch den Weinheimer Verlag eine Auflage in Höhe von 60.000 belegt ist.

Manche Leute glauben, in "Blut und Liebe" d e n Luserke zu finden. Man findet ihn auch darin, aber doch nur in einem bescheidenen Ausschnitt. Unter den Anwesenden befinden sich sicher einige, die nicht nur "Blut und Liebe", sondern auch "Das unterste Gewölbe, "B Q 7 3 8" oder "Das Abenteuer in TongKing" gespielt haben. Letzteres arbeitete der "Käpt'n" nach 1950 noch zweimal um, schneiderte es für die vorhandene Spielgruppe zeitgemäß zurecht und führte es mit Schülern der Meldorfer Gelehrtenschule auf, an der er einen Lehrauftrag für Laienspiele hatte.

Der Theaterveranstalter Luserke bewies sich in dem ganzen Ausmaß seiner Regieleistung in zahlreichen Shakespeareaufführungen. Und gleichgewichtig dazu sei gesagt: Wer einmal eine Bauhütte bei ihm mitgemacht hat, der hat eine Ahnung davon bekommen, was Handwerksgesinnung einerseits, Phantasiekraft und Impulse andererseits auf dem Grunde der von Shakespeare geleiteten Dramaturgie für eine "Welt von Bedeutung" sein können.

Für den September 1929, also schon in den Jahren des Ausbaus der Schule am Meer auf Juist, war eine Spielfahrt mit Studenten der Deutschen Freischar durch 20 Städte geplant zur Werbung für den Hallenbau. Dieser, 1931 eingeweiht, war als zentrale Stätte für die Entwicklung des Laienspielgedankens gemeint. Als Musiker für diese Spielart hatte sich Georg Götsch bereitgefunden. Er sagte indessen ab, da die Eröffnung des Musikheims in Frankfurt/0. bevorstand und verwies auf mich, der ich gerade in die "Schule am Meer" eingetreten war. So kam ich zu der Aufgabe, für die Aufführung Shakespeare's "Was Ihr wollt" aus altenglischen Musiken die im Sinne der Bewegungsspiellehre geforderten Aufzugmusiken und die Musikstücke, die in dem Spiel selbst eingebaut sind, zusammenzustellen. In naiver Unbekümmertheit griff ich zu. Wir vier Musikanten - Flöte, Geige, Bratsche und Gitarre -saßen während des Spiels kostümiert auf der Bühne, waren also Mitagierende. Es gibt kein schöneres Zeugnis über die Aufführung, als das von Prof. Dr. Hans Mayer, dem berühmten Germanisten, der nach dem Wechsel aus der DDR jetzt in Tübingen lebt und wirkt. Frau Gabi Hillmann, geb. Kelter, die unvergessene Rosalinde in "Wie es Euch gefällt" einer Juister Aufführung schickte 1979 ein Restexemplar von "Pan Apollo Prospero" an Professor Mayer. Er antwortete sehr bald so:

"Was Sie über die Shakespeare-Aufführung Luserkes mit seinen Schülern schreiben, kann ich aus eigener Erfahrung genau bestätigen. Die Juister kamen gegen Ende - der - so - fernen - 20iger - Jahre auch nach Köln. Sie spielten damals "Was Ihr wollt", und es war genau so, wie Sie schreiben. Ich habe das schöne Werk nie anmutiger und heiterer erlebt. Jede Aufführung seitdem, auch eine Festspiel-Aufführung in Salzburg, muß dagegen verblassen. Der Kanon "Halt's Maul, Du Hund" war unwiderstehlich: Jugend und Anmut noch in der Grobheit. Auf den Theatern wird das stets zur inszenierten Routine oder neuerdings zu dem, was intellektualisierte Dramaturgen für volkstümlich halten."

Von dieser übergreifenden Thematik zurück zum Wechsel von Wickersdorf nach Juist im Jahre 1924. Die Sezessionsfolge der Auseinandersetzungen mit Gustav Wyneken. Abgesehen von den menschlichen Unstimmigkeiten gab es grundsätzliche Gegensätze in den Auffassungen zur Erziehung. Die Geisttheorie von Wyneken stand Luserkes Wesensschau vom Menschen gegenüber. Formelhaft heißt das: Das alte "cogitur ergo sum" im Gegensatz zum ,,agitur ergo sum". Ich reduziere Luserkes Anthropologie auf die Realität. Luserke suchte für die Schule an der Meeresküste, der nordischen Urheimat, einen Ort, an dem die Gezeiten von Ebbe und Flut in ihrem Auf und Ab den Menschen in eine innere Bewegtheit bringen. Er suchte eine Umwelt - in diesem Falle eine Inselwelt -, die herausfordert zur Selbstbehauptung im Tun. Daß dieses Tun auch praktische Arbeit bedeutet, war in einer derartigen Umwelt selbstverständlich und gehörte zu Leben und Erziehung, zur Lebensgestaltung überhaupt. Was später in der Formulierung von "agitur ergo sum" menschenkundlich abgehandelt wird, ist in der Idee der Gründung der "Schule am Meer" auf Juist durchaus angelegt. Selbst auf die Gefahr hin, allzu sehr zu versimpeln, sage ich in der Absicht, allgemeinverständlich zu sein, "agitur ergo sum" meint, daß Handeln und Gestalten Bewußtwerdung herausfordert bzw. erst möglich macht.

In dem Einladungsheft zu diesem Konvent stehen zwei Auszüge aus den Dankrundschreiben Luserkes anläßlich der Ehrungen zu seinem 70. und 80. Geburtstag. Da heißt es:

"Der Mensch im Abenteuer des Lebens und mit dem Prometheus-Funken der schöpferischen Gestaltungskraft in sich! Dem Streben, dies Feuer zwischen uns allen lebendig zu halten, habe ich mich in jener Nacht gelobt (gemeint ist das Erlebnis auf der Bretonischen Insel Molène). Vom diesem Kurs ins Hintergründige sind Laienspiel und Sage, Erziehung und Unterricht dann lebenslang nur verschiedene Kreuzschläge gewesen -, daß sich vielleicht der eine oder andere gelegentlich fast magisch berührt fühlte, war ja nur eine Folge davon, daß sein eigenes Ich in Bewegung geriet."

Ich bekenne, durch Begegnung mit Laienspiel und Sage, Erziehung und Unterricht, das heißt, durch die Begegnung mit Martin Luserke in Bewegung geraten zu sein und meinen eigenen Weg dadurch gefunden zu haben.

Die Einladung an mich zur Vorstellung erfolgte auf Pfingsten 1929, dem Treffen der Außengemeinde bzw. der Gründung der Außengemeinde der Schule. Da machte ich mich auf die Reise. Schon von Leer an hörte ich Gespräche darüber, ob das Schiff wohl diesen Tags ginge. War zu wenig Wasser oder Sturmflut? Das erinnere ich nicht mehr. Jedoch der Dampfer fuhr, das Zügle, die Inselbahn, der feurige ,,Elias" brachte die Reisenden zum Inselbahnhof. Die Gäste der Schule erwartete man dort. Es ging zwischen den Dünen entlang bis zum Ortsteil Loog. Zu der Zeit gab es auf der Insel nur einen Baum und keine Gärten. Gerade begann der Rektor Leege im Westteil der Insel ein Vogelschutzreservat auszumachen und mit Bepflanzung zu beginnen. Das meint nicht nur Strandhafer und Sanddorn, sondern auch Strauchwerk und Versuche mit Baumbewuchs. Wer heute die Insel besucht, ahnt in der üppig gewachsenen Naturlandschaft mit dem Süßwassersee, der sich nach der Sturmflut 1928 gebildet hat, nichts von der Dürftigkeit, besser gesagt von der Herbheit der damaligen Insel Juist.

Man empfing die Gäste im Speisesaal. Unvergeßlich bleibt mir der musikalische Auftakt. Die Schulgemeinde - keine Auslesegruppe -sang Hindemith's justament entstandene Kantate "Frau Musica" nach Worten von Martin Luther. Die freibewegte Tonsprache verband sich mir in ihrer Unmittelbarkeit mit dem Blick aus dem Fenster in die Weite der Dünenlandschaft.

Drei Jahre - 1929-1932 - durfte ich Weggenosse der "Schule am Meer" sein. 1934 schloß die Schule aus zeitbedingten Verhältnissen heraus ihre Pforten. Die Erinnerung an den Anlauf, den die Schulgemeinde genommen hatte, vergrößert die Unternehmung ins Mythische. Eine erregende Kraft, von der wir geneigt sind, sie die musische zu nennen, schuf Form und Gestalt des Insellebens einer freiwilligen Gemeinschaft. Natürlich war es eine Schule, eine Schule mit Mädchen und Jungen von Sexta bis Oberprima, aber als Ganzes erfüllte sie ein bewegtes Leben, zu dem das Abitur wie eine Geste an die Schulverwaltung gehörte. Am Morgen zog ein Mann mit Umhang und Baskenmütze, mit einem Schallrohr ausgerüstet, durch die Wohnhäuser und sang auf. Es war der Schulleiter. Am gesungenen Spruch konnte man die Wetterlage erkennen. Der Weckruf war zugleich Signal, sich in der Dünenkuhle einzufinden, wo derselbe sein Cape abwarf, um die Gymnastik anzuführen. Holz hacken, Mähen, fliegender Engel, Tannenbaum, Boxen, Glockenstrang ziehen - Leitworte für die Bewegung. Den größten Teil des Jahres schloß sich ein Tauchbad an. Wenn auch kein Gebot, so geschah der Weg über die Düne zum Wasser zumeist schweigend und im Schritt, während das Wasser in stürmischem Anlauf genommen wurde. Unvergeßlich das Lebensgefühl, das in der Weite des Meeres und der Insellandschaft im Dämmer des Morgens entsteht. - Die Morgenrunde vereinte die Schulgemeinde stehend zum Anhören von Präludium und Fuge auf dem wohltemperierten Klavier von Johann Sebastian Bach. Nur an den Sonntagen unterbrachen gelegentlich Choralvorspiele die Darbietung der Stücke aus dem wohltemperierten Klavier. Der Gründerkreis der Schule hatte die Musiktradition, die August Halm in Wickersdorf schuf, mit an die Nordseeküste genommen. Eduard Zuckmayer, der ältere Bruder des bekannten Dichters, ein schöpferischer Musiker und Pianist von hohem Rang, führte die Tradition fort und prägte sie neu. Im Laufe der Jahre wurden Fugenthemen zu Allgemeingut. Das erste Präludium mit Fuge erklang stets als An- bzw. Abreisefuge zu Anfang und Ende der Ferien. Immer wieder erfuhr der Hörer, wie er durch das freie Spiel der Töne im Präludium angewärmt, in Gang gesetzt wird, wie sein Sinn in Fahrt gerät, um dann mit der Fuge in die Zucht der formalen Gliederung genommen zu werden: die tönend bewegte Form zwingt zur Klarheit im hörenden Wahrnehmen.

Der Stundenplan der Woche gliederte sich in die Sonnen- und Mondwoche, - Mondwoche bei Voll- oder Neumond. Eine Woche lang dominierten die unter dem Namen "Organisierende Fächer" zusammengefaßten Lehrinhalte, die andere Woche die mythisierenden Gebiete (Von den Lehrinhalten und deren Grundlegung soll hier des weitern nicht die Rede sein).

Die Werkarbeit gewann den Charakter einer ständigen Landgewinnung. Dieser Versuch der Landgewinnung (Gartenkultur, Dünenbefestigung) ist gewissermaßen auch symbolisch für geistiges Verhalten. Die Inselwelt in ihrer wechselhaften Steppenhaftigkeit und Großartigkeit zwingt zu ständiger Landgewinnung im geist-seelischen Bereich, zwingt zum Tun, um nicht zu verkommen, dem Inselkoller zu erliegen. Die Menschen des Inselreiches erfuhren dabei das Aufeinanderangewiesensein. Der Wunsch zur Gemeinsamkeit entwickelte zugleichdie Formen des gemeinsamen Lebens, das wie Ebbe und Flut von Zeit zu Zeit zu großen Wogen aufkämmt. Es versteht sich, daß der sommerliche Kurbetrieb, die Parfümwelle, die sich damals nur 6 - 8 Wochen über die Insel ergoß, geradezu als alberne Erscheinung empfunden wurde. Was wissen die von Sturmflut und Strandgut, von herbstlichen Vogelzügen, von Nordlicht und Meeresleuchten. Was wissen die davon, daß hier ein Mann Sprecher einer Schulgemeinde ist, der in Abständen im sogenannten Mondsicheltal der Dünen Geschichten erzählt, der in Bildern von den Lebensmächten zu sagen weiß. Er spricht sie mit geschlossenen Augen und gleichbleibendem Ton an. Nur die Ereignisse sprechen für sich, die Namen alle, wie es sich zugetragen, wie es zur Sage gehört. Was da in den Geschichten passiert, was mit ihnen gemeint ist, gärt als Wirkstoff für Gesittung und Haltung der Schulgemeinde. - Wer je mit dem Käpt'n eine Segelfahrt mitgemacht hat, der weiß, eine Klabautermanngeschichte gehörte dazu. Währte die Fahrt 7 Tage lang, so währte die Geschichte 7 Abende.

Welche Bedeutung das Laiemspiel im Schulleben hatte, davon gibt die Ausstellung reichlich Kunde; jeder Lehrer hatte die Möglichkeit, eine "Morgensprache" zu übernehmen, um entweder sein Weltbild zu entwickeln oder zu einem Problem des Lebens Stellung zu nehmen, Dichtung zu lesen oder Musik darzubieten. Luserkes Morgensprachen trugen stets Leuchtfeuercharakter für die Fahrt des gemeinsamen Lebens. Die Bildkraft seiner Sprache eignete sich, dem Zehnjährigen verständlich zu sein und den Ausgewachsenen in innere Bewegung zu bringen. Sein Lebensgefühl bestimmte die Aufbruchsgedanken in neue geist-seelische Kontinente. Er wußte stets zu neuer Fahrt zu locken.

Wie war es in der Schule am Meer? Da war die Weite des Wassers, der Rundhorizont des Himmels um die Insel, das Feuer der Sonne und die Luft in ihren vielen Bewegungen bis in die Sturmgewalten und das ewige Sich-mühen um die Erde. In dieser Umwelt weitete sich das Auge, begann das Ohr zu lauschen, schnupperte der Geruchssinn den Wind von der See, und in schwarzen Nächten tastete man sich mit Spürsinn durch das Dünengelände. Dieses in Natur gestellte Leben brachte die Menschen nahe an die Quellgründe des Seins, an die Frage der Lebensbewältigung durch Tun, an die Möglichkeit der Selbstverwirklichung durch schöpferisches Tätigsein.

Fragt man nach dem eigentlichen Beitrag, den die ,,Schule am Meer" für die Allgemeinheit geleistet hat, so darf ihr Versuchsschulplan genannt werden. Zumindest das Etappenabitur hat sich allgemein durchgesetzt, bestimmte Fachgebiete können jahrgangsweise abgeschlossen werden.

Es lohnt sich zweifellos, die Diskussion über Schulreform der zwanziger Jahre in Verbindung mit den Freien Schulgemeindem zu überprüfen oder wenigstens zur Kenntnis zu nehmen, heute sagt man ja so schön "aufzuarbeiten".

Wie ich aus dem Schrifttum ersah, muß es um 1929 zu einer Krise gekommen sein, in der Luserke anbot, zurückzutreten. Die Idee von einem Leben auf einem Schiff hörte ich in den Jahren 1929/32 öfter von ihm. Nicht erst die Not der Schulschließung brachte ihn auf die Idee. Der Plan gärte bei Lu, wie wir ihn damals nannten, also schon mehrere Jahre. Auch die Steuermannsprüfung weist darauf hin. Cum grano salis ist die Geschichte dieser Prüfung 1931 überliefert. Für alle Gebiete bekam er die Note "1". Nur bei der Gesundheitspflege haperte es, er bekam ein "genügend". Bei der geselligen Abschiedsrunde mit der Prüfungskommission erzählte er eine Geschichte in Morsezeichen.

Das zeitbedingte Ende der Schule fand in der letzten Ausgabe der "Blätter der Außengemeinde" folgende Formulierung:

Trotz des tragischen Ausgangs glauben wir heute noch, folgerichtig in dem Sinn gehandelt zu haben, in dem die Schulgründung 1925 von uns gewagt worden ist: als Dienst am Volke. Es ist uns nicht gelungen, etwas zu schaffen, das vom neuen Volksstaat als des nötigen Aufwandes wert befunden wurde. Als reine Privatschule konnten und wollten wir schon seit Jahren nicht arbeiten. Wir wissen, daß unsere Freunde, die uns oft mit großen Opfern unterstützt und die Entwicklung der Schule ermöglicht haben, dies in dem gleichen Dienstgedanken taten. Viele Opfer, die im Vertrauen auf die Zukunft der Schule gebracht wurden, sind nun verloren. Für sie wie für uns. Die unendliche Liebe und Mühe von 9 Jahren erwachsener und jugendlicher Kameraden, die in Gedanken und Anlagen besonders in unseren Gärten steckt, wird durch kein Weiterleben belohnt. So ist das Ende der Schule am Meer gekommen.

Im Logbuch der "Krake" zeichnet Luserke das Leben mit diesem Schiff und den Fahrten auf. Im Druck erschien u. a. das "Logbuch des guten Schiffes 'Krake' DGIC" von seiner vierten Dänemarkfahrt 1936 aus Holtenau rund um Seeland über Stralsund nach Kappeln (Schleswig) und zurück. Mit vier Aufnahmen und zwei Skizzen. Es mag von Interesse sein, welche größeren Veröffentlichungen in den Jahren 1934-1938, zum Teil auf dem Schiff geschrieben, herauskamen:

Groen Oie, am grauen Strom und die Bauern vom Hanushof
Hasko, der Wassergeuse
Windvögel in der Nacht. Geschichten von der Wattenküste
Die Ausfahrt gegen den Tod
Obadjah und die ZK 14
(insgesamt aber 42 Veröffentlichungen)

Martin Kießig gliedert das Werk Luserkes bis 1936 in einen Teil A, Dichtungen, und einen Teil B, Forschungen. Unter den Dichtungen unterscheidet er Prosadichtung, Spiele, die von Luserke allein verfaßt sind und solche, die in Werkstattarbeiten entstanden. Unter den Forschungen gliedert er in Pädagogik, Sprache, Tanzkunst, Theater, Shakespeare, Germanische Frühgeschichte, Verschiedenes. Er kommt bei dieser Aufstellung auf 210 Titel. Die Zahl der Veröffentlichungen über Luserke hatte bis 1936 81 Titel zu verzeichnen.

In Meldorf in Holstein lebte der Käpt'n seit 1938 in einem der kleinen Fischerhäuser, das er bald sein eigen nennen konnte. Schon auf der "Krake" betreute ihn durch lange Zeit Frau Schwarting. In Meldorf avancierte sie zur Hausdame. Köstlich, wie er in den bitteren Nachkriegsjahren auf Zetteln und Papierresten Verse und Gedichte niederschreibt, die dem Hunger, dem Tabak, den Essensüberraschungen und der Arbeit gewidmet sind. Frau Schwarting nennt er nie mit Namen, sondern kürzt ab mit dem großen Buchstaben "D", das ist Dame. Jeder dieser Verse trägt den Charakter einer szenischen Veranstaltung. Der Käpt'n bekam Gelegenheit, in der Meldorfer Gelehrtenschule zur Zeit des Oberschuldirektors Körner einen Lehrauftrag für Laienspiel durchzuführen. Da ergab sich erneut ein Aufblühen seines Wirkens. Die Zusammenarbeit mit dem Musiker Bernhard Lohse brachte ein ungewöhnlich schönes und intensives Zusammenwirken von Spiel und Musik für ein paar Jahre.

Ich vermute wohl richtig, daß es bei einer Außentätigkeit in Oldenburg/i.O. zu einem ersten Zusammentreffen mit Herbert Giffei kam. Giffei ist Germanist und war als solcher der Literatur und dem literarischen Theaterstück verbunden. Luserkes Schau und Dramaturgie bewirkte bei ihm einen Umschwung und schließlich eine Meisterschaft im Bauhüttenverfahren des Stückeschreibens und des Aufführens im Allround-Theaterstil Luserkescher Prägung. Giffei schrieb mir, daß er gerade seine 43. Bauhütte in Arbeit hätte. Ich selber habe es in meiner aktiven Periode nur auf 25 Spiele in diesem Verfahren gebracht.

Nicht nur die Begegnung mit dem Barden auf der Insel Molène wirkt bestimmend für die Lebensauffassung bei Lu, sondern auch das Erlebnis der "Mondburg auf dem Nordland", einer selten auftretenden Naturerscheinung am Meer bzw. am den Küstengewässern, die sich während des Käpt'ns Seefahrerzeit zutrug. In der "Reise zur Sage" heißt es so:

Das große Erlebnis war vorhin an Deck. Eine Stunde habe ich atemlos gegafft, bis mir einfiel, auch Diether zu holen. Der Vollmond stand sehr niedrig, und das Gewölk war unter dem kälterem Wind zu massigen Dunstgebilden geworden. Und da sah ich im Süden, wo sich eine große Sandbank, "das Nordland", unter dem Wasser streckt, diese Stunde lang zum Erschrecken leibhaftig hier am Rand der Welt die Mondburg auf dem Nordland. Erst erhoben sich dort nur schattenlose Wolkenfelsen. Im ganzen Süden stand der Dunst noch dick gemauert vom Wasser empor; der Nordwest hatte sich gerade erst darüber hergeworfen. Wo die schiefe Mondbeleuchtung einfiel, ragten die Felsen unheimlich dicht und weiß wie hundert Meter hohe Eisberge. Hoch von oben gossen sich Lawinen über die Hänge. - Das Ganze war so unheimlich nahe beim Schiff, daß man den Kopf in den Nacken legen mußte, und der Sturz auf unser Deck herabzukommen schien. Unser Mast aber schwankte unter einem Himmel, der erst endlos hoch durch eine zweite Wolkendecke abgeschlossen wurde. Mann, was schwankt der Kahn! Gerade ist wieder eine Boe zu Gange, die orgelt richtig in unserem Takelwerk. Es ist doch schon zwei Stunden nach Hochwasser und könnte längst ruhiger sein.

Also, wie ich oben ganz benommen auf dieses Nebelbild von Eisberg starrte, da kam plötzlich wie ein Schlag das Bewußtsein: dies Ganze bewegt sich ja! Die weißen Felsen verschoben sich bannend langsam; jetzt rückte ein unge- heurer, finsterer Klotz heran. So wie ich in Norwegen die Felsen steil aus dem Wasser hoch und immer höher steigen sah, bis es einem beim Hinaufschauen schwindelte, weil das Gestein sich herabzukippen schien, so riesenmäßig war dieser Wolkenberg auf dem Nordland. Seine Flanken waren von Schächten zerklüftet, in die das Mondlicht eindrang. Und langsam bildeten sich in der fortschreitenden Veränderung Fensterhöhlen und offene Wölbungen, die ins Innerste des Riesenklotzes führten, und ganz in seiner Tiefe wurde schließlich ein rötliches Gewusel von Gestalten sichtbar. Dazu das Gebrause von Wind und Wasser und die seltsamen Stimmen, die man im Sturm plötzlich rufen hörte.

Peng, da schlug wieder eine See draußen gegen unseren Bug, daß der Gischt schwer übers Vorschiff prasselte. Das Schiff hatte nicht aufgepaßt. Im allgemeinen nimmt "Krake" die See prächtig. Schwenkt sich drüber und wischt sich das Hinterteil daran . . .
Seit ich die Mondburg gesehen habe, ist irgend etwas imganzen hier verändert. Bestätigung eingetroffen. Danke, Obadjah!

Die Schule am Meer sang einst in der Pfingstkantate seine Worte in der Vertonung von Eduard Zuckmayer:

"Nicht am Menschen mißt sich die Tat,
Unrein ist Mühe um Ja und Nein selbst der Götter.
Steine umwälzen ist mehr schon,
Nicht geizen ist alles."

Sein Freund Aeschlimann deutet dieses "Nicht geizen ist alles" als die Fähigkeit, Vergangenes über Bord werfen zu können. Aber es ist auch zugleich Chiffre für ein dienendes Bereitsein, aufzubrechen in neue Welten. - Ein anderer Ausspruch von Luserke möge den Bericht seiner Lebensfahrt beschließen:

"Dreierlei Wille ist im allem, was lebt,
und in rechtem Maße seien diese drei vereint.
Dann fährt das Leben gut dahin:
In sich selber beisammenbleiben,
den Genuß der Veränderung verstehen und
dem Tode ohne Furcht dennoch entschlüpfen.
Schlange, Wasserwoge und Möwe, das sind
die drei, und in solcher Richtung muß es
gelesen werden: Die Möwe ist das erste,
auf Wind und Wasser, dem flutenden Tode,
wiegt sie sich immer dahingetragen obenauf.
Die Wasserwogen, das ist das zweite: ohne Zögern
erfüllen sie alle Räume und ohne Unterschied.
Die Schlange aber ist das dritte,
die sich häutet, wenn es ihre Zeit ist,
und sich nicht einmal umsieht nach dem,
was sie abstreifte. Fände sich die
Durchdringung dieser drei Dinge ineinander -
das wäre der silbergeschmiedete Menschenleib, und
in der Verbundenheit der Freundschaft ist
auf Erden schon die Erfüllung zu suchen."

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